26. April 2022

Bildungspolitik in Niedersachsen

Zwei Jahre Bildung in Corona - Bildungsverbände des NBB fordern stringentes Handeln! „Die Pandemie ist noch lange nicht beendet!“

Am 16. März 2020 erfolgte der erste flächendeckende Lockdown in Deutschland und in Niedersachsen. Neben vielfältigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Einschnitten bedeutete diese politische Entscheidung auch für das niedersächsische Bildungssystem, für Lehrkräfte, Eltern und vor allem für Schülerinnen und Schüler, besondere Herausforderungen und zuweilen tiefe Einschnitte in den gewohnten Bildungsalltag.

Nunmehr, genau zwei Jahre nach Beginn dieser Maßnahmen, ziehen die Bildungsverbände im Niedersächsischen Beamtenbund und Tarifunion erneut Bilanz der vergangenen Schuljahre und richten konkrete Forderungen an die niedersächsische Landespolitik.

So nahmen im Rahmen eines Pressegespräches heute die fünf Landesvorsitzenden der Bildungsverbände, so der Philologenverband Niedersachsen (PHVN), der Verband Niedersächsischer Lehrkräfte (VNL), der Verband Bildung und Erziehung (VBE), der Verband für Lehrerinnen und Lehrer an Wirtschaftsschulen in Niedersachsen (VLWN) und der Berufsschullehrerverband Niedersachsen (BLVN) zusammen mit dem Niedersächsischen Beamtenbund (NBB) zu aktuellen Bildungsfragen Stellung.

Zunächst ging Alexander Zimbehl, 1. Landesvorsitzender des Niedersächsischen Beamtenbundes und Tarifunion, auf die aktuelle Situation des öffentlichen Dienstes und insbesondere des Bildungssystems ein. Dabei betonte er unter anderem die besondere Herausforderung auch an den öffentlichen Dienst und den Bildungsbereich, die sich gerade vor dem Hintergrund der kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine und den derzeit festzustellenden Flüchtlingsströmen nach Deutschland abzeichnen.

Übereinstimmend kamen alle Vertreter der Bildungsverbände zu dem Schluss, dass die Corona-Pandemie die vorhandenen Mängel im Bildungssystem zum einen verstärkt und zum anderen noch offensichtlicher gemacht hat. Das zeigen in erschreckender Weise die aktuellen Zahlen der schlechtesten Unterrichtsversorgung in Niedersachsen seit fast 20 Jahren mit nur noch 97,4%.

Franz-Josef Meyer, Landesvorsitzender des VBE, kritisiert dabei insbesondere die Kultusministerkonferenz und das niedersächsische Kultusministerium für ihren Umgang zur Frage des Präsenzunterrichts. So hat aus seiner Sicht die Politik bei der Abwägung zwischen dem Gesundheitsschutz und dem Unterricht vor Ort in der Regel Entscheidungen zugunsten des Präsenzunterrichts getroffen.

Dazu Franz-Josef Meyer: „Obwohl dies pädagogisch richtig ist, wurden aber die dafür notwendigen Rahmenbedingungen nicht geschaffen. Ob Impfung, Lüftungsanlagen oder die Umsetzung der grundlegendsten Hygieneschutzmaßnahmen: Um alles mussten Lehrkräftevertretungen lange kämpfen, um einen Mindestschutz für das Lehrpersonal und die Kinder und Jugendlichen zu erreichen.“ Auch der interne Umgang mit den Lehrkräften gibt bei Franz-Josef Meyer Anlass für deutliche Kritik: „Ständige Zuweisung neuer Aufgaben, mangelhafte Kommunikation durch die politisch Verantwortlichen und Mehrfachbelastungen, etwa durch Online-, Wechsel-, Präsenzunterricht und Notfallbetreuung bei gleichzeitigen coronabedingten Personalausfällen, führen zu einer Entgrenzung der Arbeitszeit mit Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit.“ Meyer und die weiteren Vertreter der Bildungsverbände fordern in diesem Zusammenhang die niedersächsische Landespolitik erneut und nachhaltig dazu auf, diesen Managementproblemen im Interesse der Beschäftigten entgegen zu treten.

Zusammenfassend formulierte Franz-Josef Meyer ein acht Punkte umfassendes Maßnahmenpaket, welches als klare Forderung seines Verbandes jetzt umgehend und möglichst schnell umzusetzen sein wird.

Ralph Böse, Landesvorsitzender des Berufsschullehrerverbandes, machte sowohl Lob, als auch Kritik, im Zusammenhang mit der Arbeit des Kultusministeriums in den vergangenen zwei Jahren deutlich. Dabei bewertete er durchaus positiv, dass man seitens des Kultusministeriums in Fragen des Krisenmanagements versucht habe, mit den Interessenvertretungen der Beschäftigten ins Gespräch zu kommen und gemeinsame Lösungen zu erarbeiten.

Auch den Umstand der Entwicklung eines inzidenzbasierten Plans wurde durch Ralph Böse aus Sicht seines Verbandes durchaus positiv erwähnt. Gleichzeitig bemängelt Böse nach wie vor die Reaktionsfähigkeit des Kultusministeriums auf neue Pandemieentwicklungen. „Beispielsweise hat die Entscheidung zugunsten einer Maskenpflicht in Schulen aus unserer Sicht viel zu lange gedauert und wäre angesichts der deutlich steigenden Infektionszahlen gerade bei Kindern und Jugendlichen überfällig gewesen!“, so Ralph Böse. Darüber hinaus bemängelt Böse nachhaltig das Nichtreagieren des Kultusministeriums insbesondere in den Sommerferien 2021 auf die absehbare Pandemieentwicklung, obwohl dies von den Bildungsverbänden wiederholt angemahnt wurde. „Man konnte den Eindruck gewinnen, dass aus Sicht des niedersächsischen Kultusministeriums die inzwischen vorherrschende Omikron-Variante nicht so schlimm wäre, als dass größere Vorsichtsmaßnahmen nötig seien“, so Böse weiter.  

Christoph Rabbow, neuer Vorsitzender des Philologenverbandes in Niedersachsen, ging im Schwerpunkt auf die aktuelle Situation der Lehrkräftegewinnung und Lehrkräfteausbildung in Niedersachsen ein. Dabei formulierte er deutliche Kritik an der Schwerpunktsetzung des niedersächsischen Kultusministeriums. „Während die Schulen mit ständigen Vorgaben der Kultusministerien durch die Krise begleitet wurden und früh das Gebot ausgegeben wurde, keine Schülerin und kein Schüler möge aufgrund von Corona einen Bildungsnachteil erhalten, wurde die Lehrkräftegewinnung und -ausbildung in den letzten beiden Jahren nicht nur sträflich vernachlässigt sondern auch inhaltlich völlig aus den Augen verloren!“, so Christoph Rabbow.

Während die Kultusministerkonferenz, und damit auch der niedersächsische Kultusminister aktuell den Bedarf an neuen Lehrkräften auf 14.000 Stellen errechnen, geht der Philologenverband von einem deutlich düsteren Bild aus. „Nach unseren Prognosen fehlen in Deutschland bis 2030 etwa 80.000 neue Lehrkräfte“, so Rabbow weiter. Diesen deutlichen Unterschied zu den Zahlen der Kultusministerkonferenz erklärt sich Rabbow bereits durch vollkommen abweichende Vorstellungen zu den Qualitätsstandards. „In den konservativ angestellten Berechnungen ist ein Mehrbedarf für kleinere Klassengrößen, den Ausbau des Ganztagsbetriebs, den Inklusionsaufgaben in Schule, der Senkung des Stundendeputats zugunsten eines Mehrs an Beziehungsarbeit oder das Eingehen auf stark heterogene Lerngruppen noch nicht einmal berücksichtigt.“

Die Problematik der Ausbildung von Lehrkräften wirkt sich nach Auffassung von Torsten Neumann, Landesvorsitzender des Verbandes Niedersächsischer Lehrkräfte, insbesondere im Bereich der Inklusion frappierend aus. So sieht Neumann die Umsetzung einer gelingenden Inklusion durch den eklatanten Mangel an Lehrkräften und Unterstützungspersonal behindert und spricht sich für ein Fortbestehen der Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen ab Jahrgangsstufe 5 über das Schuljahr 2022/23 hinweg aus. „Seit 2013 ist jede Schule in Niedersachsen eine inklusive Schule und seit nunmehr neun Jahren läuft die Inklusion in Niedersachsen an vielen Schulen noch immer nicht rund, trotz zahlreicher Initiativen. Das Hauptproblem ist von Anfang an die unzureichende personelle Ausstattung der Schulen. Es fehlen nicht nur ausgebildete Fachkräfte für Förderschulpädagogik, es fehlt an vielen Schulen eine ausreichende Anzahl von Lehrkräften überhaupt“, so Torsten Neumann.

Ergänzend bemängelt Neumann dabei, dass nach wie vor nicht genügend multiprofessionelle Teams vorhanden sind, trotz vollmundiger Ankündigungen des Kultusministeriums. Dabei benötigt Inklusion Unterstützungspersonal in großer Anzahl, wenn man allen Schülerinnen und Schülern gerecht werden will. Die Pandemiezeit hat die Probleme gerade bei den inklusiv beschulten Schülerinnen und Schülern besonders deutlich offengelegt.

Abschließend macht Torsten Neumann zusammenfassend deutlich: „Ziel muss weiterhin sein, dass die Bedingungen für die Umsetzung einer gelingenden Inklusion nach so langer Zeit endlich geschaffen werden. Neben mehr qualifiziertem Personal wie genügend Förderschullehrkräften und multiprofessionellen Teams bedarf es einer effektiveren Lehrkräftefortbildung.“

Mit Blick auf die digitale Transformation und die gesellschaftliche Disruption ruft Joachim Maiß, Vorsitzender des Verbandes der Lehrerinnen und Lehrer an Wirtschaftsschulen in Niedersachsen (VLWN), dazu auf, Schule auf allen Ebenen neu zu denken und intelligente Konzepte zu entwickeln.

Allen voran muss die berufliche Bildung durch multiprofessionelle Teams gestärkt und so zukunftssicher aufgestellt werden. „Sie sind sozial notwendig, technisch zwingend, entlastend und effizienzsteigernd. Denn Lehrkräfte sind Professionals im Lehren und Lernen! Sie sind nur bedingt Experten in psychologisch sozialen Fragestellungen, die nicht erst seit Corona ständig zunehmen und durch die kommenden ukrainischen Jugendlichen eine neue Dimension annehmen werden. Sind auch keine Administratoren, um Computernetzwerke am Laufen zu halten. Und sie sind schon mal gar keine Softwareentwickler, die digitale Lerninhalte produzieren. Auf all diesen Feldern brauchen Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte dringend Unterstützung“, so Joachim Maiß.

Neben Lehrkräften ergänzen nach Ansicht von Maiß unterschiedlichste Fachdisziplinen multiprofessionelle Teams. „Das sind Sozialpädagogen, Psychologen, technische Assistenten, Medienpädagogen, Mediengestalter für digitale Lernmedien und digital kompetentes Schulverwaltungspersonal“, führt Joachim Maiß weiter aus. „So setzt sich das Schulteam der Zukunft zusammen, um alle Aufgaben, die die berufliche Bildung zu leisten hat, auch schultern zu können und damit bestmöglichen Unterricht zu gestalten.“

Zusammenfassend zeigen sich die im Niedersächsischen Beamtenbund und Tarifunion organisierten Bildungsverbände gegenüber dem Kultusministerium unter Kultusminister Tonne enttäuscht über die nach wie vor nicht erfüllten Hinweise und Forderungen aus dem Kreise der gewerkschaftlichen Praktiker. Einhellig wurde darauf hingewiesen, dass die Pandemie – unabhängig politischer Öffnungsentscheidungen – zweifelfrei nicht beendet ist. Vielmehr nehmen die Ansteckungsraten bei Kindern und Jugendlichen deutlich zu. Allein dieser Umstand sollte für Kultusministerium und Landesregierung im Interesse der betroffenen Lehrkräfte, Eltern, sowie Schülerinnen und Schülern jetzt Anlass zum sofortigen Handeln sein.

An das politische Handeln sollte angesichts der neuen, unbekannten Herausforderungen nicht der Maßstab der Unfehlbarkeit angelegt werden. Aber Handeln „auf Sicht“ und nach bestem Wissen und Gewissen sollte nach zwei Jahren Pandemie vorbei sein.